INTERVIEW

«Die zentrale Kraft war der Humor.»

Acht Mal trug die das Programm die Handschrift von Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber, wenn in Graz das Fest der Vielfalt des österreichischen Films ausgerufen wurde. Nach der Diagonale 2023 geben die beiden Festivalleiter nun die Staffel weiter. Im Interview resümieren und reflektieren sie über die Besonderheit der österreichischen Filmlandschaft, die widersprüchlichen Erwartungen an ein Festival von nationalem Anspruch und die Lust, dieses Ding der Unmöglichkeit zu realisieren.
 
Ihr wurdet 2014 für die Leitung der Diagonale bestellt und habt 2016 die erste von acht Diagonalen verantwortet. Obwohl damals die jüngsten Diagonale-Leiter in der Festivalgeschichte, hattet ihr auch davor schon ein anderes, das YOUKI-Festival in Wels, geleitet. Es ist anzunehmen, dass euer Berufsleben vom Einstieg an dem Kino gewidmet war. Wisst ihr noch, welcher Sog euch zum Kino gezogen hat?
 
SEBASTIAN HÖGLINGER:
Wir waren soeben in Frankfurt auf einem Kongress, wo auch erste Kinoerinnerungen ein Thema waren. Ich denke, wir gehören vielleicht der letzten Generation an, für die das Kino ein selbstverständliches und wesentliches Moment in der Bewegtbild-Sozialisierung war. Beim Besuch von Bernard und Bianca Die Mäusepolizei als Kind mit den Eltern war eine erste Faszination mit diesem magischen Ort schon angelegt. Richtig los ging's erst im Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaften. Dann aber rasant. Über Christine Dollhofer, die eine Gastvorlesung hielt, kam ich zu meinem ersten Festivaljob als Flaschensammler bei der Nightline der ersten Ausgabe von Crossing Europe. Peter lernte ich in Linz kennen, besser dann, bei der Diagonale, wo wir beide als Praktikanten starteten. Als wir dann beim YOUKI-Festival unseren Größenwahn zusammengeführt haben, hat sich Vieles beschleunigt. Durch diese Chance, uns ausprobieren zu können, vertiefte sich nicht nur die Liebe zum Kino, sondern auch eine Liebe zur Festivalarbeit in ihrer Vielfalt: dem Austausch, den Themen, die sich von der Leinwand in den Festivalraum verlängern.
 
PETER SCHERNHUBER: Beschleunigung ist ein gutes Stichwort. Ich bin in Wels aufgewachsen, wo es anfangs noch mehrere Innenstadtkinos gab, die waren bald weg. Die Multiplexkinos am Stadtrand sowie in der näheren Umgebung waren danach ein faszinierender Ort, wo ich die Filme der späten neunziger und der Nuller Jahre gesehen habe. Es war damals noch eine Zeit, wo z.B. in der Klasse alle etwas zu Titanic sagen konnten. Ein zweites wichtiges Moment, nämlich dass man sich von Filmen nicht nur emotional berühren lässt, sondern darüber auch sprechen und mit Film nachdenken kann, verbinde ich mit Hans Schoiswohl, dem Gründer und ersten Leiter des YOUKI-Festivals und seiner Kollegin Heide Kouba. Da sah ich erstmals Filme von Michael Glawogger, Karin Brandauer oder Nikolaus Geyrhalter und entdeckte eine ganz andere Art von Kino.
 
 
Im Vorwort zum ersten Katalog 2016 habt ihr vom dreibeinigen Spagat gesprochen, den die Programmgestaltung für ein nationales Filmfestival darstellt: Zwischen Verpflichtung gegenüber der Filmbranche, dem Publikum und dem eigenen kuratorischen Anspruch: Habt ihr im Austarieren dieser Kräfte einen wesentlichen Anspruch an eure Festivalgestaltung erlebt? Was prägt ein Festival, das eine nationale Filmschau zum Auftrag hat?
 
PETER SCHERNHUBER:
Ich glaube, dass das Bild des dreibeinigen Spagats nach wie vor für viele Festivals seine Gültigkeit hat. Es gibt Festivals, die sehr an einer kuratorischen Vorstellung hängen, aber nicht mit ihrem Austragungsort in Verbindung stehen und so auch Publikum verlieren. Jede Stadt hat eine Filmgeschichte. Wir wollten immer versuchen, die Stadt mitzuerzählen. Stadt nicht nur als Publikum begreifen, sondern auch wahrnehmen, welche Ausdrucksformen es dort gibt. In Graz waren das beispielsweise ein Filmmagazin wie blimp oder Filmprogramme des steirischen herbstes, die für diese städtische Filmgeschichte stehen.
 
SEBASTIAN HÖGLINGER: Dem Auftrag der Diagonale wohnt eine gewisse Unmöglichkeit inne. Diese Unmöglichkeit, all diese Bedürfnisse zusammenzuführen, die Gewissheit, dass es ein Stück weit immer scheitern muss, war auch das Reizvolle für uns. Man muss sich immer dieses eigenartigen Spagats bewusst sein und das Gefüge in Bewegung halten. Mit dem Begriff einer nationalen Filmschau verbindet sich möglicherweise eine veraltete Sicht, quasi einen Wettstreit des österreichischen Kinos auszurufen und zu definieren, was das österreichische Kino ist. Ich fand es immer gut, das haben auch unsere Vorgänger:innen getan, dieses Label zu hinterfragen. So wurden etwa die Wettbewerbskriterien den aktuellen Gegebenheiten stetig angepasst und weiter gefasst. Die Hervorkehrung des nationalen Aspekts halte ich nicht für maßgeblich, vielmehr die Vielgestalt und Vielstimmigkeit des hiesigen Kinos, was umgekehrt zur Folge hat, dass die Diagonale im Vergleich zu anderen Festivals mit ähnlichem filmpolitischem Auftrag, ein gewisses internationales Interesse erzeugt. Aus deutscher Perspektive nehmen wir etwa wahr, dass es ein großes Interesse aber auch eine gewisse Verklärung gibt. Das Gegen-den-Strich-Bürsten des Labels Österreichischer Film war so gesehen sicher ein Anspruch, dem wir uns gestellt haben.
 
PETER SCHERNHUBER: Wir wollten auch den Begriff des „Festivalfilms“ hinterfragen. In Zeiten, wo die medialen Umbauten so stattfinden, das Vieles in nebeneinander existierenden Nischen stattfindet, lag das Reizvolle in der Diagonale daran zu schauen, was es da noch gibt. Insofern auch ein Unterschied zu großen A-Festivals, die vor allem ihr festivalaffines Klientel zufriedenstellen müssen. Die Sichtweise, den Publikumsfilm gegen den Kunstfilm in Stellung zu bringen, ist nicht mehr haltbar. Es gibt weder den klassischen Mainstream- noch den ultimativen Avantgarde-Film. Man hat es mit hybriden Formaten und unglaublichen Gleichzeitigkeiten zu tun, auch mit Filmen, die auf mehreren Bällen gleichzeitig tanzen.
 
SEBASTIAN HÖGLINGER: Es werden jetzt sicher auch Leute widersprechen, wir glauben aber, dass es im Großen und Ganzen gelungen ist, die Diagonale sehr breit zu positionieren. Da ist uns auch zugute gekommen, dass wir bei unserer Bestellung noch relativ unbeschriebene Blätter waren und die Leute nicht von vornherein wussten, wo sie uns einordnen sollten. Dadurch war der Start vielleicht leichter, weil gewisse Widerstände erst nach und nach aufgebaut wurden.
 
 
Die Reflexion über das Wesen eines Festivals per se scheint immer wieder auch ein sehr wichtiges Thema für euch gewesen zu sein. Wie habt ihr im Duo im Laufe dieser acht Jahre auch immer wieder das Konzept „Festival“ weitergedacht? Inwiefern ist Festival mehr als Kino?
 
PETER SCHERNHUBER:
Ich würde drei Punkte nennen, die uns im Laufe der Jahre wichtig geworden sind. Da ist zum einen der Aspekt der Gastlichkeit, vergleichbar mit einem Wirtshaus, das immer mehr ist als seine Speisekarte. Man ist immer wieder gefordert, auch die Form neu zu denken. Der zweite ist ein pragmatisch ökonomischer. Im Festivalbetrieb sind noch Dinge möglich, die im regulären Kinobetrieb ökonomisch kaum mehr möglich sind, wie z.B. Retrospektiven zu zeigen, Filmkopien oder Gäste zu holen. Der dritte Punkt war ein technischer. Wir standen z.B. vor der Frage, wie viele analoge Projektoren in Graz zur Verfügung stehen. Es ist eine österreichische Eigenart, dass die Präsenz von Filmgeschichte mit Filmarchiven und -museen fast ausschließlich in der einzigen Metropole Wien stattfindet.
 
SEBASTIAN HÖGLINGER: Gerade in Zeiten, wo die Leute stärker überlegen, ob sie am Abend noch etwas besuchen wollen, hilft die Verdichtung, die ein Festival mit sich bringt. Ein Festival ist ein Event. Ich sehe das in diesem Kontext als positiven Begriff. Es findet also eine mediale und zeitliche Verdichtung statt und es kommt zu einer Zusammenführung von Filmen. Die Kommunikation zwischen den Filmen ist für mich besonders faszinierend, die „Maulwurfgänge“ inzwischen der Programme und Filme, die entdeckt werden können oder nicht, die manchmal gewollt sind, manchmal auch nicht. Bei der Diagonale gibt es da unzählige Möglichkeiten, weil man einen sehr breit gefassten aktuellen Wettbewerb hat ebenso wie sehr liebevoll kuratierte historische Programme. Es war immer reizvoll wahrzunehmen, wie das Programm miteinander kommuniziert und wie es sich weiter ins Rahmenprogramm oder vielleicht weiter bis in die Stadt übersetzt.
 
 
Ein Festival ist immer etwas Gleiches und etwas ganz Anderes zugleich. Welche Quantität an Arbeiten kam in der Regel auf euch zu, wie habt ihr jedes Jahr den Kristallisationsprozess der Programmwerdung erlebt?
 
PETER SCHERNHUBER:
Man muss sich in Österreich vor Augen führen, dass man selbst mit einem hochfinanzierten Festival wie der Diagonale oder Viennale in der gesamten Kulturlandschaft einen schweren Stand hat, verglichen mit großen Musik- oder Theaterfestivals. Es muss trotzdem gelingen, einem Publikum Einstiegsmöglichkeiten zu bieten. Bei der Diagonale ist man in der schrägen Situation, dass abgesehen bei jungen Filmemacher:innen die Teilnahme bei der Diagonale per se kein Ziel ist. Das ist schon eher ein großes internationales Festival oder ein großer Erfolg an der Kinokasse. Von den 500 bis 550 Einreichungen – das ist seit Jahren und trotz Corona eine Konstante – gibt es ganz unterschiedliche Erwartungshaltungen an die Diagonale, aber auch an die Filme. Wir haben als Auswahlkriterien immer die Frage in den Vordergrund gestellt: Welchen Anspruch hat ein Film an sich selbst? Inwiefern gelingt es dem Film, seinen eigenen Anspruch einzulösen? So bestand die Möglichkeit, ein Studierenden-Projekt mit einem großen Spielfilm zu vergleichen und so war es auch möglich, Überraschendes zu entdecken. Wir haben lange darüber diskutiert, wie man eine Vergleichbarkeit schaffen kann bei Filmen, die nicht vergleichbar sind.
 
SEBASTIAN HÖGLINGER: Das Schöne und auch das Schwierige bei der Diagonale war der Versuch, diesen Querschnitt abzubilden. Ein Prozess, bei dem man sich selbst als Person so gut wie möglich rausnehmen muss. Man muss über den eigenen Geschmack hinausgehen, andererseits sollte man angreifbar bleiben. Das meine ich positiv, nicht wehleidig. Die Diagonale hat eine eigenartige Zwischengröße. So zeichneten wir für die Geschäftsführung, die administrative und die künstlerische Leitung des Festivals verantwortlich. Dennoch haben wir uns immer gegen ein Auslagern der Sichtungen entschieden, auch wenn es natürlich externe Sichtungsberatungen gegeben hat, die uns im Sichtungsprozess begleitet haben. Die Letztauswahl lag aber immer bei uns beiden, es war unser Wunsch, für das Programm einzustehen. Und obwohl die Diagonale für viele Filme kein primäres Ziel ist, wollen dann doch sehr viele am Ende dabei sein. Absagen sorgen somit natürlich für Enttäuschungen, manchmal auch für Wut. Meistens kann man’s wieder abarbeiten, nicht immer. Für die junge Generation ist die Diagonale ein Ermöglicher, man muss sich dennoch bewusst sein, dass man auch ein Gatekeeper ist. Gerade in einer national so wichtigen Schau, ist das auch problematisch. Und daher haben wir für uns auch gesagt, dass acht Jahre genug sind.
 
 
Die Diagonale zu verantworten, heißt auch eine Haltung zum österreichischen Film einzunehmen. Welche Angebote stellt das österreichische Filmschaffen als kuratorisches Betätigungsfeld? Wo seht ihr in der Gesamtfläche die interessanten Eckpunkte, von denen aus die großen Diagonalen zu ziehen sind?
 
PETER SCHERNHUBER:
Ein Aspekt war für uns immer die große Tiefe und reichhaltige Filmgeschichte. Daraus ergeben sich Formen und Ästhetiken, in weiterer Folge Inhalte und Erwartungshaltungen, die Bilder und Klischees des österreichischen Films geformt haben. Das gängigste Schlagwort zum heimischen Kino ist wahrscheinlich die von der New York Times gefundene Zuschreibung Feel-Bad-Cinema. Gemeint ist die sozialrealistische Nähe und die sozialkritische Haltung vieler heimischer Filme; gleichzeitig ist das hiesige Filmschaffen weitaus facettenreicher. Uns haben besonders auch jene Stimmen interessiert, die versuchen, Neues zu erkunden, zu überraschen, mit den eingeübten Bildern zu brechen.
Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es darüber hinaus ohnedies auch eine Nähe der Filme zueinander. Das hat auch mit der Kleinheit der Szene zu tun. Es ist erstaunlich, dass dieselben Leute etwa für etablierte Kino-Regisseur:innen und auch fürs Fernsehen arbeiten. So oft auch von den Gräben die Rede ist, schon aus rein personellen Überlegungen ist es unmöglich, dass diese Szene zerfällt.
 
SEBASTIAN HÖGLINGER:
Als Schlagwort für das österreichische Kino ist mir die Doppelbödigkeit lieber als der Feel-Bad-Gedanke. Sie ist nur möglich, wenn man relativ frei arbeiten kann, was hierzulande durch die funktionierende Fördersituation im Großen und Ganzen möglich ist. Man wird sowohl in kurzen experimentellen Formen, über den Dokumentarfilm bis hin zum klassischen Feel-Bad-Cinema – um diese Formulierung doch wieder aufzugreifen – immer diesen kleinen Bruch finden. Irgendwo taucht ein verschmitztes Lächeln auf, selbst in den tristen Formen schwingt so etwas wie österreichischer Humor mit – so es denn so etwas gibt. Das macht das österreichische Kino für mich so besonders.
 
PETER SCHERNHUBER: Ich war bei der Tagung in Frankfurt irgendwann an dem Punkt, an dem ich mich gefragt habe: Blickt das Ausland zu romantisch auf den österreichischen Film, wenn man ihn im internationalen Festivalkontext betrachtet? Ich habe diesen Gedanken überprüft und bin zu dem Schluss gekommen, dass es sich um ein Problem handelt, das eher im Inland stattfindet. Ich glaube, dass wir als Branche zu unkritisch auf uns selber schauen, dass wir zu sehr die wohlwollenden Blicke des Auslands für uns übernehmen, es teilweise sogar als Ausrede hernehmen, um strukturelle Probleme zu übersehen. Wir sind nicht bereit, offenherzig, ehrlich, hart und selbstkritisch mit uns selbst vorzugehen. Der wertschätzende Blick auf das Filmland Österreich von außen, vor allem unter der Berücksichtigung der Kleinheit des Landes ist absolut haltbar. Es ist also nicht der falsche Romantizismus aus dem Ausland, aber wahrscheinlich ist es das Genügsame und auch Eitle im Inland.
 
SEBASTIAN HÖGLINGER: Die Verklärung kommt ja daher, dass pauschal ein Urteil über das österreichische Kino gefällt wird. Als wäre es immer hart, immer kantig. Das ist es überhaupt nicht.
 
PETER SCHERNHUBER: Ich glaube, dass in diesem Aspekt noch ein anderer Fehler schlummert. Der, dass man immer über die Spitzen und die Exzellenzen spricht. Man braucht aber auch einen Humus. Niemand will sich gerne als Humus fühlen. Das gilt auch fürs Festival-Machen, in acht Jahren hat es gewiss ausreichend Programmreihen gegeben, die nicht gut waren, aber es haben sich daraus andere ergeben, die vielleicht besser waren. Auf ganze Festivaleditionen umgelegt, waren manche schlechter, manche besser, aber sie korrespondieren miteinander. Ich glaube, das Potenzial von einem funktionierenden Festival liegt darin, dass man Dinge populär machen kann, die man gut findet. Popularität schaffen für Filme, für die man brennen kann. Ob die groß oder klein, billig oder teuer waren, ist fürs Erste nicht so wichtig.
 
 
Hat für euch als junge Festivalmacher, von einem Jugendfilmfestival kommend, das neue und junge Kino eine besondere Rolle gespielt? Wie sehr hat sich das österreichische Filmschaffen in diesen acht Jahren verjüngt, erneuert. Worin seht ihr die verheißungsvollen Potenziale?
 
SEBASTIAN HÖGLINGER:
Wir fanden, dass es keine eigene „Nachwuchs“-Schiene braucht, weil wir solche Sonderschienen immer als Abstellgleise wahrgenommen haben, die nicht die gleiche mediale Beachtung erlangen wie etwa der Wettbewerb. Interessanterweise gibt es ein paar Namen, die uns seit YOUKI begleitet haben. Ich denke an Lisa Weber, Viktoria Schmid oder Kurdwin Ayub, die mit ihren ersten Filmen in Wels, bei Barbara Pichler schon bei der Diagonale präsent war und bei der Diagonale’22 mit Sonne einen außergewöhnlichen Eröffnungsfilm geliefert hat. Solche Geschichten waren für uns natürlich besonders bewegend. Eine Arbeit, die im Kontext Nachwuchs auch hervorzuheben wäre, ist der diesjährige Kurzspielfilmpreis-Gewinner Cornetto im Gras von David Lapuch. Lapuch ist ein Grazer Solitär, ein Einzelkämpfer, der eine ganz eigene Form der Alltagsinszenierung und einen eigenwilligen Humor an den Tag legt. Er ist gewiss für viele einfach aus dem Nichts gekommen, wir sind schon lange Fans seiner einzigartigen Arbeiten. 
 
PETER SCHERNHUBER: Was das junge Filmschaffen auch auszeichnet, ist seine Breite. Auch Clara Stern war immer dabei. Zwischen Clara und Kurdwin liegen im positiven Sinn Welten. Es ist toll, dass beide Teil dieses „jungen Kinos“ sind. Worüber ich manchmal grüble, ist die Produktionslandschaft. Wir haben die erfreuliche Situation, dass es viele junge Nachwuchsproduktionsfirmen gibt. Eine der ersten, die wir schon seit YOUKI kennen, ist La Banda, ein Zusammenschluss von Leuten, die eine große Nähe zur Popkultur und zur Musik haben – Dinge, die uns immer interessiert haben. Bei den Firmen, die in den neunziger Jahren die Erfolgsgeschichte des österreichischen Films dominiert haben, hat man mit Ausnahme der epo-film nicht den Eindruck, dass der Generationenwechsel ein großes Thema ist. Eher beobachte ich eine Gleichzeitigkeit von Etablierten und Jungen, die mit eigenen Firmen nachrücken. Wenn ich jetzt aber an meine Erfahrung mit Hans Schoiswohl und Heide Kouba in Wels zurückblicke, dann sind Vorbilder und Lehrmeister, die Wissen weitergeben, eine sehr positive Erfahrung.
 
 
Der österreichische Film hat im letzten Jahr zwei heftige Polemiken erlebt, die wichtige Diskussionen in Gang gebracht haben. Wie sehr ist euch als nationalem Festival eine Rolle zugefallen, eine Plattform zu sein, um auch die Schmerzpunkte im Gesamtkomplex des Filmschaffens zu debattieren?
 
PETER SCHERNHUBER:
Als Festival haben uns die Debatten um Sparta und Corsage umgehend erreicht. Für uns verbindet sich das sogleich mit der Frage, in welchem Medienzeitalter wir uns bewegen und wer zu welchem Zeitpunkt angehalten ist bzw. auch unter Druck gesetzt wird, sich zu äußern. Unsere Position war es immer, zunächst nachzudenken und zu schauen, wie die Gemenge- und die Interessenlage ist. Uns war es wichtig auszudifferenzieren. Die Fälle Sparta und Corsage sind nicht vergleichbar. Ich halte es für zielführend, individuell zu schauen, was davon für die Filmbranche das Thema ist und was für uns als Festival das Thema ist. Die Diskussion um Sparta (ohne auf eine moralische Diskussion einzugehen) war letztlich auch eine zum Zustand unseres Medienzeitalters und es ging stark um mediale Dynamiken und die Frage, wie Journalismus funktioniert oder eben nicht funktioniert. Das gilt im besonderen Maße auch für jene, die sich eigentlich als kritisch sehen und sich ihrem Berufsethos nach einem Qualitätsstandard verpflichtet fühlen. Ganz anders ist die Lage bei Corsage. Aber auch hier wurden Dinge vermischt und es wurde vorschnell und emotional argumentiert: So fand ich es etwa mehr als unpassend, in diesem Fall das Argument Autorin versus Werk in Stellung zu bringen. Zusammengefasst haben wir als Festival für uns reklamiert, nach bestem Wissen und Gewissen zu agieren, aber dabei immer auch in Betracht zu ziehen, dass wir mit der eigenen Meinung falsch liegen.
 
 
Wie sehr ist der Debattenraum abseits der extremen Polemiken eine Säule im Funktionieren eines Festivals?
 
SEBASTIAN HÖGLINGER:
Wir haben die Diagonale wiederholt als die Landschulwoche der österreichischen Filmbranche bezeichnet, weil ein Großteil der Leute aus Wien anreist, alles fußläufig ist und man einander immer wieder trifft. Es ist ein Ort der Begegnungen auf der Leinwand und auf den Straßen. Wir haben schon gemerkt, dass sich Auseinandersetzungen, die über Social Media mit ziemlicher Heftigkeit geführt werden, bei einem persönlichen Aufeinandertreffen schon mal ganz anders gestalten und dass sich im Gespräch Dinge auch wieder drehen lassen und Positionen zueinander finden. Das ist das Schöne, das der analoge Raum mit sich bringt. Ich glaube, dass die Diagonale gerade von der jüngeren Generation vermehrt als Plattform genutzt wird, um Dinge öffentlich zu diskutieren bzw. Themen zu platzieren. Es haben in den letzten Jahren Initiativen hier ihren Ausgang genommen und auch eine gewisse Breite und ein mediales Echo erlangt. Wir haben den Eindruck, dass sich in den Strukturen der Branche etwas getan hat. Ein Festival kann dabei ein Ankerpunkt sein, um einen nächsten Schritt zu setzen.
 
PETER SCHERNHUBER: In der Tradition und der Selbstsicht ist die Diagonale ein sehr kritischer Ort. Die gesamte Filmbranche versteht sich als kritisch. Das gehört zum guten Ton und zur Attitüde. Wenn es jedoch darum geht, in einem zweiten Schritt, Kritik der Kritik zu üben oder mal einzufordern, dass das Denken im Kopf eine Richtungsänderung vollzieht, da wird es haarig. Da müssen wir uns selbst genauso wie alle anderen bei der Nase nehmen. Da gibt es einen massiven Nachholbedarf.
 
 
Wenn man eure Reden und Vorworte in den Katalogen durchmisst, dann stellt man einige Konstanten fest: die Auseinandersetzung mit dem Kino als Ort der Wahrheit und der Täuschung, als Ort der Erkenntnis und der Emotion. Und unangefochten an der Spitze steht die Faszination Kino als Ort der Sehnsucht. Warum konzentriert sich für euch im Sehnsuchtsbegriff die Quintessenz des Kinos?
 
SEBASTIAN HÖGLINGER:
Vielleicht beginnt das schon bei Bernard und Bianca. Wobei diese frühen Erinnerungen für mich tatsächlich stärker mit dem Ort Kino als mit einem konkreten Film zusammenhängen. Das ist vielleicht eine etwas verkitschte Sicht. Ich verbinde das Kino aber mit ganz zentralen biografischen Erfahrungen. Der Kino-Ort verknüpft auf der einen Seite eine intellektuelle Sehnsucht, wenn man filmhistorisch oder theoretisch herangeht, aber es gibt eben auch ganz banale Sehnsüchte, die sich mit Personen in diesem geteilten Raum verbinden. Ich habe mitunter bessere Filme im Streaming oder in unserem Sichtungskino hier in den Diagonale-Räumlichkeiten gesehen, die großen Erinnerungen verbinden sich jedoch mit dem konkreten Kino-Orten. Wie immer kommt es bei der Sehnsucht zu einer starken Romantisierung und Verklärung. Mit dem Kino ist’s ein wenig wie mit Berlin: Es war mal richtig toll, es ist mittlerweile ein wenig kaputt, aber eine gehörige Prise Rest-Magie wohnt ihm immer noch inne.
 
PETER SCHERNHUBER: Es geht beim Kino immer auch darum, über sich selbst hinauszuwachsen, Zerstreuung zu finden, sich zu verlieren. Es geht darum, das zu haben, was man gerade nicht hat. Man geht als Kind in einen Film und – um jetzt bei Bernard & Bianca zu bleiben — sieht den Albatros, der in die Häuserschluchten New Yorks hineinfliegt und es entsteht etwas wie Fernweh, eine Möglichkeit, von sich selbst wegzukommen, um auf sich zu kommen. Ich glaube, darin liegt die Faszination. Und es geht immer auch darum, auf Figuren zu treffen, die nicht so sind wie man selbst. Das kann auch ein Bösewicht sein. In der politischen Diskussion gibt es da ein massives Missverständnis: Wenn man Fragen der Repräsentation von Personen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten stellt, dann ist das legitim und – notwendig. In meinem Verständnis wäre es aber falsch, den Trugschluss zu ziehen, dass die Immergleichen auf die Immergleichen und nur Ihresgleichen treffen sollten. Ich möchte mich mit jemanden identifizieren, der ganz anders ist als ich. Das ist das Interessante am Kino, ein Stück weit ist es vielleicht vergleichbar mit einer Szene, die sich quer durch den österreichischen Film zieht – die obligatorische Discoszene: Wir stehen rum und tanzen uns aus der Welt. Und weil Österreich vielleicht mehr Zeltfest- als Kinoland ist, findet die Sehnsucht und die Zerstreuung nicht im Kino statt, sondern in der Landdisco. Die Motive sind ähnliche.
 
SEBASTIAN HÖGLINGER: Faszinierend finde ich auch das Potenzial des Zufalls. Ich persönlich habe im Kino die Sehnsucht, etwas anderes zu sehen und mich fallen zu lassen. Hier wird mir ein Programm angeboten, das mir dann gefällt oder nicht. Jemand hat sich aber dazu Gedanken gemacht. Bei einem Festival spitzt sich das noch weiter zu, hier werde ich noch öfter zufällig in einem Film landen – und der macht dann etwas mit mir. Hier sehe ich ein Kernpotenzial des Kinos. Man könnte es Anti-Algorithmus nennen.
 
 
Ihr habt auf beeindruckende Weise der Diagonale zu zweit eine heitere einheitliche Stimme gegeben. Welche Dynamik und welche positive Kraft habt ihr aus dem Arbeiten zu zweit geschöpft?
 
SEBASTIAN HÖGLINGER:
Das alles zu zweit zu erleben war ein extremes Geschenk. Auch betreffend den Widerstand, der mit dem Job notgedrungen einhergeht. Man hat zu zweit einfach breitere Schultern. Das haben wir schnell begriffen und auch damit gespielt. Ebenso wie mit der wiederkehrenden Etikettierung des angeblichen Jung-Seins. Dass wir so gleichgeschaltet in unseren Köpfen agieren konnten, ist dem Umstand zu verdanken, dass wir schon zuvor sechs Jahre miteinander gearbeitet hatten und wirklich befreundet sind. Es würde nicht funktionieren, wenn wir nur zusammengewürfelt wären. Wir sind uns sehr ähnlich und gleichzeitig extrem verschieden. Wir können unsere Launen gegenseitig gut auffangen und uns vor allem darüber lustig machen. Wir haben eigentlich ein Nicht-System des Zusammenarbeitens entwickelt. Unsere Methode ist sehr zeitaufwändig, weil wir alles bequatschen. Es war nie so, dass wir hinter den Kulissen Dinge vollkommen aufgeteilt haben. So haben wir immer schon eine Kritikschleife in unserer Zusammenarbeit, bevor irgendjemand anderer eingebunden wird. Diese erste Kritikschleife kann bei einem Festival wie der Diagonale, wo die Meinungen sehr divers und laut sind, viel abfedern, wenn man etwa mal einen Vorab-Blick auf das Mail des anderen wirft. In der Phase der Programmierung gehen aber auch unsere Meinungen dann schon mal deutlicher auseinander, manchmal nehmen wir auch aus reiner Sportlichkeit die gegenteilige Meinung ein. Aber es gab in den 15 Jahren unserer Zusammenarbeit keinen einzigen Tag, wo wir zerstritten heimgegangen sind. Dass man so etwas in einem Arbeitszusammenschluss finden kann, ist schon besonders. Für mich wäre der Job anders undenkbar gewesen.
 
PETER SCHERNHUBER: Dem kann ich mich nur anschließen. Ich würde sagen, die zentrale Kraft war der Humor. Wir haben versucht, die Diagonale ernst zu nehmen und alles, was damit in Verbindung steht. Aber wir haben versucht, uns nicht allzu ernst zu nehmen. Wenn einer eine Laune hat, dann ist es eine Laune, aber auch nicht mehr.
 
SEBASTIAN HÖGLINGER: Sonst wäre es auch nicht möglich gewesen, beispielsweise Eröffnungsreden gemeinsam zu schreiben. Viele Vorschläge des jeweils anderen werden da mit Hingabe zerstört und umgeschrieben, niemand ist beleidigt.
Ein letzter wichtiger Punkt: Wir haben uns eigentlich über die Musik schätzen gelernt und teilen vielen Gemeinsamkeiten außerhalb des Films. Das macht es dann oft aus.
 
 
Interview: Karin Schiefer
April 2023